Aus der Woche gegriffen

Naivität

 

Ich möchte mir meine Naivität bewahren

 

Treudoof das Gute annehmen. Entgegen zahlreicher Belege für die Schlechtigkeit der Welt immer wieder neu zuwiderglauben. Sich grundsätzlich allem und jedem bar jedes Argwohns öffnen. Vorbehaltlos das Freundliche in das Unklar hineinverstehen.

Wer so lebt, auf den wartet die Enttäuschung hinter jeder Ecke. Wer so denkt, den kann man hervorragend ausnehmen. Wer so handelt, der gehört von der Wirklichkeit mal gehörig geschrubbt. Wer so ist, ist naiv.

Ob Tierschutzarbeit oder therapeutische Praxis, Alltag oder Neuland – hinter jedem Stein harren des Naiven kleine, vor allem aber große Schläge, die bereitwillig mitten in die Magengrube hüpfen. Wieder, wieder und abermals kann er dann das Gefühl der Atemlosigkeit erleiden, die Momente, in denen die Welt sich dreht und selbst aus den Angeln hebt, bevor er sie unter Geburtswehen eines neuen Wirklichkeitssinns mühsam wieder zusammensetzt, nur um sogleich in eine neue Erschütterung zu tappen. „Wie habe ich nur annehmen können…“ mag sich der Naive nach dem x-ten Mal dann womöglich zu fragen beginnen und einsehen, dass er fortwährend zwar an Weltwissen reicher, aber an Wohlglauben nicht ärmer wird. So reihen sich die Enttäuschungen nur wie Ausnahmen einer Regel aneinander, die da lautet: Im Zweifel für die Hoffnung.

Nach dem (x+1)-ten Mal jedoch mag die gottgegebene Naivität langsam zu einer alten Bekannten werden, deren Launen man kennt, aber deren Tugenden man darum nicht minder schätzt.

Die Naivität eine Tugend? O ja. Unverzagt das Wünschenswerte ersehnen. Gegen Enttäuschungen immer wieder neu anbegehren. Sich überzeugt mit Kopf und Kragen an ein Traumgebilde verkaufen. Mit schwärmerischer Sicherheit so tun, als sei die Welt eine bessere.

Wer so lebt, den hat die Welt noch nicht abgeschliffen. Der kann vielmehr das Sandpapier unter seine Füße schnallen und es Schritt für Schritt andersherum versuchen. Das indes ist nicht mehr die unberechenbare alte Bekannte, sondern die kalkulierte Naivität: sich dem Verdruss zu verweigern, sei die Welt, wie sie ist.